www.Presbyteriumsdiskussion-EKiR.de www.manfredalberti.de
    www.Presbyteriumsdiskussion-EKiR.de    www.manfredalberti.de                    

A.11.2. VORALTERSARMUT: Gastkommentar in der Süddeutschen Zeitung am Sa. 14.05.2016 S. 5

 

http://www.sueddeutsche.de/politik/gastkommentar-ploetzlich-arm-1.2992849 

 

 

sueddeutsche.de politik (Druckausgabe 14. Mai 2016)  13. Mai 2016, 18:55

 

Gastkommentar Plötzlich arm

 

Ein Leben lang gearbeitet und schon vor der Rente ohne Rücklagen? Für die Mittelschicht ist das ein Albtraum - und Realität. Dieses enttäuschte Gerechtigkeitsempfinden zerstört das Vertrauen in die Politik.

Von Manfred Alberti

Eine gute Ausbildung, ein anständig bezahlter Arbeitsplatz, eine respektable Karriere waren früher einmal Garanten dafür, im Alter ein sicheres Auskommen zu haben. Das ist nicht mehr so. Seit drei Jahrzehnten fallen in zunehmendem Maße auch jene Aufgaben weg, für die lange Zeit Facharbeiter, Angestellte und leitende Mitarbeiter gebraucht wurden. Outsourcing, verschlankte Hierarchien, Konzentration und in wachsendem Maße die Digitalisierung sind die Ursachen dafür.

Gleichzeitig wurden durch die Lockerungen des Kündigungsschutzes Kündigungen auch nach sehr langen Arbeitsverhältnissen erleichtert. Das soziale Netz, das Menschen früher nach so einem Jobverlust aufgefangen hat, wurde stark dezimiert und das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre heraufgesetzt. Zudem haben viele Firmen ihre Frühverrentungsprogramme beendet. Oft werden langjährige und damit teure Betriebsangehörige durch preiswertere jüngere Mitarbeiter ersetzt.

Alles zusammen hat zu einer fatalen Entwicklung geführt: Arbeitnehmer über 50 Jahren mit einem 35 oder 40 Jahre langen Arbeitsleben, die ebenso lange in die sozialen Sicherungssysteme eingezahlt haben, verlieren ihren Arbeitsplatz. Was noch schlimmer ist: Sie haben so gut wie keine Chance mehr auf eine neue Arbeitsstelle. Das betrifft nicht nur Arbeitnehmer mit geringerer Qualifikation, sondern auch Facharbeiter, leitende Angestellte und Geschäftsführer mittlerer und großer Unternehmen.

Früher konnten Betroffene weitgehend mit Abfindungszahlungen, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, zusätzlichem Job und frühem Renteneinstieg die Zeit bis zur Verrentung überbrücken. Das Polster des angesparten Vermögens wurde nur als Puffer für Notfälle gebraucht.

Heute muss man schon nach zwölf bis 24 Monaten Arbeitslosengeld das Sparguthaben für den Lebensunterhalt aufbrauchen, bevor der Bezug von Hartz IV möglich ist. Das bedeutet, dass die hoch qualifizierte Fachkraft mit 35 Berufsjahren bei einer Kündigung im Alter von 55 Jahren nach 18 Monaten Arbeitslosengeld für den Lebensunterhalt ihr Vermögen bis zum Schonvermögen von etwa 10 000 Euro ausgeben muss. Die Zeit bis zum Renteneintritt mit 65 bis 67 Jahren ist dann oft nicht mehr zu überbrücken, ohne das Vermögen weitgehend zu verlieren - de facto ist man dann arm.

Dieses Risiko von Armut, Verlust seines Lebensstils und seiner sozialen Stellung hat der Mensch nicht durch eigenes Fehlverhalten zu verantworten. Es ist ein neues gesellschaftliches Lebensrisiko, dem er trotz eigener Anstrengungen nicht entkommen kann.

Eine solche Verarmung vor dem Rentenbeginn haben sich viele Menschen nie vorstellen können. Sie verlieren ihr Vermögen, müssen als Alterssicherung gedachte Häuser verlassen, wenn diese für ein Ehepaar zu groß sind (ab 80 bis 90 Quadratmeter), und können ihre familiäre Verantwortung für die Ausbildung und das Studium ihrer Kinder nicht mehr so wahrnehmen, wie sie das geplant hatten.

Diese Entwicklung ist zu einer Katastrophe für die Mittelschicht in Deutschland geworden. Bei vielen 45- bis 65-Jährigen zerstört diese sehr präsente Existenzangst das Vertrauen in den Staat und die Politik. Im vergangenen Jahrhundert hatte der Staat in wachsendem Maße Strukturen bereitgestellt, in denen der Mensch normalerweise einen sicheren Lebensweg gehen konnte. Das ist weggefallen.

Die Distanz zu Politik und Staat wird dabei durch ein enttäuschtes Gerechtigkeitsempfinden verstärkt: Wie kann es sein, dass man als 57-Jähriger nach 40 Arbeitsjahren und ebenso langen Zahlungen in die sozialen Sicherungssysteme und nach zwei Jahren Arbeitslosengeld fast vor dem Nichts steht und nach dem Aufbrauchen des Sparguthabens im Bezug von Hartz IV demjenigen gleichgestellt ist, der nichts eingezahlt hat, aber den gleichen Anspruch auf Sicherung seines Lebensunterhaltes besitzt?

Auf diese Fragen hat die Politik noch keine Antwort gefunden. Wahrscheinlich haben Politik und Medien dieses brisante Thema noch nicht einmal in seiner Dringlichkeit entdeckt. Sonst hätte es bei den Analysen dazu, warum die etablierten Parteien so viel Rückhalt in der Bevölkerung verloren haben, eine wichtige Rolle spielen müssen.

Die Altersarmut ängstigt Geringverdiener. Die Voraltersarmut ist die Sorge der Mittelschicht.

 

Manfred Alberti, 67, ist Pfarrer im Ruhestand und betreut ehrenamtlich Senioren.

 

URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/gastkommentar-ploetzlich-arm-1.2992849

 

Copyright: Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH

Quelle: SZ vom 14.05.2016

Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.

  

 

 

 

 

A 11.1. Voraltersarmut. Ausführliche Analyse

 

Voraltersarmut

Für die Mittelschicht liegt das größte Armutsrisiko nicht in der Rentenzeit, sondern vorher.

Manfred Alberti

 

1.) Hintergrund: Verschlechterung der Situation älterer Arbeitnehmer

Seit ca. 15 bis 20 Jahren fallen durch die wirtschaftlichen Konzentrationsentwicklungen, Outsourcingstrategien, Insolvenzen von Mittelstandsbetrieben, Verschlankungen von Verwaltungen und Firmenhierarchien und durch die Digitalisierung von Arbeitsaufgaben in zunehmendem Maße Arbeitsplätze weg, die mit Facharbeitern, Angestellten und leitenden Mitarbeitern besetzt waren.

Gleichzeitig wurden durch die Lockerung des Kündigungsschutzes Kündigungen auch nach sehr langen Arbeitsverhältnissen erleichtert, wurde das soziale Auffangnetz nach Kündigungen stark dezimiert und das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre heraufgesetzt.

Seither haben viele Firmen ihre Frühverrentungsprogramme mit hohen Ausgleichszahlungen und der Möglichkeit, mit geringen Abschlägen frühzeitig in Rente zu gehen, beendet.

Die neuen IT-Technologien ermöglichen die Herabstufung früherer spezialisierter und hoch dotierter Arbeitsplätze zu Arbeitsplätzen, oft in Teilzeit, mit erheblich geringerer Entlohnung.

Der Ausbau der Leiharbeit und die jederzeitige Verfügbarkeit vieler hoch qualifizierter Arbeitsloser erübrigen das Festhalten an langjährig Beschäftigten.

Das deutlich geringere Einkommen jüngerer Arbeitnehmer machte das Ersetzen teurer älterer Arbeitskräfte durch jüngere mit weniger Einkommen, weniger Rechten, neuester Ausbildung und höherer Leistungsfähigkeit für Arbeitgeber attraktiv.

 

2.) Problem: Angst vor Armut in der Zeit vor dem Renteneintritt

Alles zusammengenommen hat zu einer fatalen Entwicklung geführt:

Hoch- und sogar höchstqualifizierte Arbeitnehmer über 50 Jahre mit einem 35 oder 40 Jahre langen Arbeitsleben und Einzahlungen in die sozialen Sicherungssysteme verlieren ihren Arbeitsplatz und haben so gut wie keine Chance auf eine neue Arbeitsstelle. Das betrifft nicht nur Arbeitnehmer mit geringer Qualifikation sondern auch Facharbeiter, leitende Angestellte und Geschäftsführer mittlerer und großer Unternehmen.

Früher konnten die wenigen Betroffenen weitgehend mit Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Ausgleichszahlungen, zusätzlichem Job und früherem Renteneinstieg die Zeit bis zur Verrentung mit geringen Abstrichen am Einkommen überbrücken. Das Polster des angesparten Vermögens wurde nur als Puffer für Notfälle gebraucht.

Heute muss man schon nach 12 bis 24 Monaten Arbeitslosengeld das angesparte Vermögen für den Lebensunterhalt aufbrauchen, bevor der Bezug von Hartz IV möglich ist.

Das bedeutet, dass der hochqualifizierte Fachmann mit vielleicht 35 Berufsjahren bei einer Kündigung im Alter von 55 Jahren nach 18 Monaten Arbeitslosengeld sein Vermögen für den Lebensunterhalt bis zum Schonvermögen von ca. 10 000 € ausgeben muss. Die Zeit zwischen Kündigung mit 50 bis 60 Jahren und Renteneintritt mit 65 bis 67 Jahren ist dann oft nicht mehr zu überbrücken, ohne das Vermögen weitgehend zu verlieren, d.h. arm zu werden.

Dass mit 50 Jahren heute von dem gekündigten Facharbeiter oder Geschäftsführer noch große familiäre Aufgaben zu erledigen sind, wie Ausbildung und Studium der Kinder oder vollständige Abbezahlung des Hauses, erschwert die Situation vieler Menschen zusätzlich.

Anders als vor 15 bis 20 Jahren ist heute für den angestellten Mittelstand vom Facharbeiter bis zum Geschäftsführer ein sehr hohes Armutsrisiko in der Zeit zwischen Mitte fünfzig und dem erst zehn Jahre später anstehenden Renteneinstieg entstanden. Dieses Risiko hat nicht der Mensch durch eigenes Fehlverhalten etc. selbst zu verantworten, sondern es ist ein neues gesellschaftliches Lebensrisiko, dem er trotz eigener Anstrengungen nicht entkommen kann.

Das macht vielen Menschen Angst, große Angst.

Außer Beamten betrifft diese Situation nahezu alle Arbeitnehmer, Selbständige sowieso. Nicht nur Geringqualifizierte, alleinerziehende Mütter und Menschen mit Problemen sind heute betroffen, sondern alle bis hin zu hochbezahlten leitenden Angestellten. Bei vielen 45 bis 65 Jährigen dürfte diese Existenzangst sehr präsent sein.

 

3.) Politische Folge: Suche der Mittelschicht nach Alternativen

Wenn viele normale Arbeitnehmer mit 45 Jahren beginnen, mit der dauernden Angst zu leben, ob ihr Arbeitsplatz bis zu ihrem Renteneintritt erhalten bleibt, und wenn sie selbst dieses so gut wie nicht beeinflussen können, da sie als ältere Arbeitnehmer keine Alternativen haben, verlieren viele Arbeitnehmer und ihre Familie das Vertrauen in den Staat.

Im letzten Jahrhundert hatte der Staat immer mehr Strukturen bereitgestellt, in denen der Mensch normalerweise bei eigenem guten Verhalten einen sicheren Lebensweg gehen konnte. Das ist heute weggefallen.

Der Staat sichert auch den Besten nicht mehr ab. Dieser ist abhängig geworden von Faktoren, die er selbst nicht beeinflussen kann. Der Staat nimmt eine seiner zentralen Aufgaben der Lebensabsicherung nicht mehr wahr. Die Zeit bis zum Renteneintritt ist eine Zeit der Verarmung geworden für viele Menschen der Mittelschicht, die sich das nie haben vorstellen können. Sie verlieren ihr Vermögen, müssen als Alterssicherung gedachte Häuser verlassen, wenn diese für ein Ehepaar zu groß sind (ab 80 bis 90 qm), und können ihre familiären Aufgaben für ihre Kinder nicht mehr so wahrnehmen, wie sie das geplant hatten.

Diese Entwicklung ist eine bedrohliche Katastrophe für die Mittelschicht in Deutschland.

Die jahre- oder gar jahrzehntelange Existenzangst vor einem totalen sozialen Zwangsabstieg kurz vor der Rente kann bei erheblichen Teilen der Mittelschicht zu einem beherrschenden Lebensgefühl werden. Wie kann ich diese Zeit ordentlich, ohne Reputationsverlust und ohne Verlust meines sozialen Lebensumfeldes überstehen?

Die Distanz zur Politik und zum Staat wird dabei durch eine enttäuschte Gerechtigkeitserfahrung verstärkt: Wie kann es sein, dass man als 57jähriger nach 40 Arbeitsjahren und ebenso langen Zahlungen in die sozialen Sicherungssysteme und nach zwei Jahren Arbeitslosengeld vor dem Nichts steht und nach dem Aufbrauchen des Sparguthabens mit Hartz IV demjenigen gleichgestellt ist, der keinen einzigen Euro eingezahlt hat, aber den gleichen Anspruch auf Sicherung seines Lebensunterhaltes besitzt? Solche Situationen werden als Ungerechtigkeiten unseres Sozialsystems angesehen. Warum gibt es nicht, wie in den Niederlanden, einen Zuschlag zum Lebensunterhalt für jedes Jahr eingezahlter Sozialabgaben?

Meines Erachtens hat auf diese Fragen die Politik noch keine Antwort gefunden, wahrscheinlich haben Politik und Medien dieses brisante Thema noch nicht einmal in seiner Dringlichkeit entdeckt, denn sonst hätte dieses Thema bei den Analysen zum offensichtlichen Rückhaltverlust der etablierten Parteien und zum Aufkommen der AfD eine wichtige Rolle spielen müssen.

Die drohende Altersarmut ängstigt Geringverdiener, die Voraltersarmut ist die Sorge weiter Kreise der etablierten Mittelschicht.

 

 

 

A 11.3. Voraltersarmut: Leserbrief Frankfurter Rundschau  19./20. Nov. 2016

 

Wen wundert der Zulauf zur AfD?

(Soziales Gefälle: "Das Unbehagen an der Macht" FR-Meinung vom 10.11.)

 

Einen Satz aus dem  Leitartikel von Harry Nutt "Das Unbehagen an der Macht" sollte man dick unterstreichen: Es "darf aber nicht unterschlagen werden, dass die Regierungen der westlichen Welt das Gespür für das soziale Gefälle und die Deklassierungen, die in ihren jeweiligen Ländern wirken, verloren haben."

Die Armutsangst weiter Teile der angestellten Mittelschicht wird politisch völlig ausgeblendet. Nach einem oft erzwungenen Arbeitsende in den 50er Lebensjahren bekommt man nach 40 Arbeitsjahren maximal zwei Jahre Arbeitslosengeld und muss dann arm werden bis auf ein kleines Schonvermögen und muss gegebenenfalls sein zu großes Haus (mehr als 90 Quadratmeter) verkaufen, bis man Anspruch auf Hartz IV hat. Wer hat als angestellter Facharbeiter, genauso wie als Manager, mit 50 Jahren nicht Angst vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes? Wer kann schon zehn Jahre lang seinen Lebensunterhalt aus seinem Vermögen bestreiten?

Zu dieser gesetzlich so vorgesehenen Armutsperspektive sagt keine der etablierten Parteien nur ein Wort. Kann da der wütende Zulauf zur AfD als Protestpartei noch verwundern? Nein, denn das stimmt: Regierung und Parteien haben das Gespür für soziale Deklassierungen verloren.

 

Manfred Alberti, Wuppertal

 

 

 

 
Druckversion | Sitemap
© Manfred Alberti

Diese Homepage wurde mit IONOS MyWebsite erstellt.